Big Red Jeff Rubard
2010-02-03 20:17:42 UTC
DIE ZEIT 17.6.2009
Jürgen Habermas zum 80.
Der Vorwärtsverteidiger
Der Philosoph Jürgen Habermas wird achtzig Jahre alt. Sein Werk ist
gewaltig, seine internationale Wirkung enorm. Das hat einen guten
Grund: Seine Bücher verteidigen den Geist der Moderne. Und dennoch
bleiben sie empfindlich für die Niederlagen des Fortschritts
Früher las man die Bücher von Jürgen Habermas heimlich unter der
Schulbank und durfte sich vom Lehrer nicht erwischen lassen. Heute
sind die Texte von Habermas Pflichtlektüre. Wer seine
Schlüsselbegriffe nicht kennt, darf sich nicht dabei erwischen lassen,
denn ihr Urheber ist schon zu Lebzeiten ein Klassiker und so berühmt,
wie ein Philosophieprofessor nur werden kann. Das ist kein gutes
Zeichen, weil für Klassiker gilt: Man kennt ihre Formeln. Aber ihr
philosophisches Motiv, in dem das Herz der Gedanken schlägt – das hat
man vergessen.
Bei Jürgen Habermas liegt das Grundmotiv seines Denkens offen zutage
und ist für Leser doch schwer zu finden. Mal tarnt es sich im grauen
Zwirn akademischer Sachlichkeit, mal verschwindet es unter turmhohen
Begründungen. Aber von Anfang an, schon in den ersten Arbeiten des
Studenten, ist es nicht zu übersehen. Das Motiv lautet, sehr
vereinfacht, so: Wer auf die Geschichte der Menschheit zurückblickt,
der sieht eine Litanei des Schreckens, eine empörende Geschichte von
Gewalt und immer wieder Gewalt. Und doch – es gibt einen nicht zu
leugnenden Fortschritt, es gibt, bei allen Rückschlägen, eine soziale
»Evolution« und damit die Möglichkeit, Macht und Gewalt zu
zivilisieren oder eines Tages vielleicht ganz abzuschaffen. Das Medium
der Selbstzivilisierung ist die menschliche Sprache, denn jedem
Sprechen wohnt ein Ziel inne, das »Telos der Verständigung«.
Kommunikation unterbricht den Kriegszustand der Welt.
Wer in diesem Gedanken ein mächtiges idealistisches Erbe vermutet, der
vermutet erst einmal richtig. Habermas, damals ein Student von Anfang
zwanzig, war bei seiner Schelling-Lektüre auf einen großartigen, aber
extrem spekulativen Gedanken gestoßen, der ihn noch heute, sechzig
Jahre später, fasziniert. »Gott Vater«, schrieb Schelling, habe sich
aus der Schöpfung zurückgezogen und den Menschen das Feld überlassen.
Allerdings: Die mit Freiheit begabten Geschöpfe seien verpflichtet,
den richtigen Gebrauch von ihrer Freiheit zu machen. Mithilfe ihrer
Sprache müssten sie untereinander dasselbe Anerkennungsverhältnis
herstellen, wie es Gott zu ihnen unterhalten habe, als er ihnen die
Autonomie schenkte. Wer gegen diesen Bund mit Gott verstoße, der
begehe erneut einen »Sündenfall«.
Habermas, der aus der Gedankenwelt von Heidegger und Gehlen kam,
schrieb seine Doktorarbeit über Schelling und gab seiner Deutung eine
verblüffende Wendung. Er schlug eine Brücke zu den Frühschriften von
Karl Marx, weil ihm dessen Gesellschaftskritik die Möglichkeit gab,
Schellings Rede vom Sündenfall ganz handgreiflich, ganz
materialistisch zu verstehen. Ein Sündenfall ist es, wenn
Machtverhältnisse über Sprachverhältnisse siegen – wenn die
»Freigelassenen der Schöpfung« nicht die Verständigung wählen,
sondern, wie so oft in der Geschichte, die Gewalt.
Nun sind Philosophen keine Belletristen, das heißt: Sie müssen die
Motive, von denen sie »infiziert« sind, gründlich ausnüchtern, von
spekulativen Schlacken reinigen und dem aufgeklärten Publikum in
klaren Begriffen verständlich machen. Genau das erhob Habermas zu
seinem Programm. Mit dem kalten Besteck der Wissenschaft wollte er
nachweisen, dass die Sprache nicht bloß eine Waffe im babylonischen
Bürgerkrieg der Gesellschaft ist, eine Maske der Macht. Seine
Gegenformel lautete: Wer das Gewebe der Sprache nur lange genug gegen
das Licht hält, wer ihre Gesetze nur inständig genug untersucht – der
wird erkennen, dass darin eine Normativität, ein Anspruch auf Wahrheit
eingebaut ist, den wir zwar missachten, aber nicht grundsätzlich
aushebeln können. Mit Wörtern kann man lügen und Macht ausüben; doch
eine Sprache, die vollständig auf Lug und Trug gebaut sei, die könne
es nicht geben. »Noch in den pathologisch verzerrten Kommunikationen
steckt der Stachel von Wahrheitsansprüchen.«
Man muss nicht lange rätseln, welche Sprengkraft eine über Schelling
vermittelte, mit Marx angereicherte und den Mitteln der Linguistik
ausgehärtete Kommunikationsphilosophie unter den theoriehungrigen
Intellektuellen der sechziger Jahre entfaltete. Sie lasen Habermas
genauso, wie er es gemeint hatte: als Forderung nach radikaler
Demokratie und radikaler Kritik. Beschädigt ist die Demokratie dort,
wo die »Öffentlichkeit« von Meinungsmonopolen beherrscht, von
Lobbyisten manipuliert und von Politikern gegängelt wird. Und defekt
sind Demokratien, die sich blindlings, ohne Willensbildung, dem
Selbstlauf des Fortschritts überlassen, der Wissenschaft und Technik
als Ideologie (so eine Studie aus dem Jahr 1968).
Viel war damals von »Herrschaftsfreiheit« die Rede, Habermas wollte in
seinen Schriften gar ein »objektives Interesse« an Emanzipation
erkennen. Heute hingegen springt eher ein anderer Zug dieser Bücher
ins Auge, ein kultureller Konservatismus, vorsichtiger gesagt: eine
tiefe Ambivalenz. Auf der einen Seite bewundert Habermas moderne
Gesellschaften, weil sie – historisch einmalig – demokratische
Verfahren etablieren und die diskursiven »Spielräume« kommunikativer
Vernunft erweitern. Auf der anderen Seite aber sind moderne
Gesellschaften zu fürchten, denn ihre Funktionssysteme entwickeln eine
überschießende Macht. Die kapitalistischen Zwänge des Marktes
kollidieren mit demokratischer Selbstbestimmung, während eine
wuchernde Sozialbürokratie – eine Befürchtung aus den siebziger Jahren
– den Bürgern das Heft aus der Hand nimmt und sie in Betonwüsten
»stilllegt«.
Die Fäden dieser Gedanken laufen in einem monumentalen Knoten
zusammen, in der zweibändigen Theorie des kommunikativen Handelns
(1981). Dieses Hauptwerk ist zu Recht als Abschied vom pessimistischen
Dunkeldenken der »alten« Frankfurter Schule gefeiert worden, doch auch
darin findet sich derselbe Zwiespalt. Die atemberaubende Dynamik des
Kapitalismus, auch Technik und Wissenschaften treiben die Gesellschaft
nach vorn. Aber zugleich geht von diesen komplexen »Systemen« eine
unsichtbare Bedrohung aus. Sie belagern die schonungsbedürftige
»Lebenswelt« der Bürger – ihre Nutzenkalküle infiltrieren die alten,
»bewusstlos-gewussten Traditionen« und setzen sich in der
vorpolitischen Sphäre fest, im Privaten und in der Familie. Mit einem
Wort: In der Moderne lauert ein Widerspruch. Ihre Systeme entlasten
zwar von materieller Daseinsnot; aber gleichzeitig sind sie mit dem
Alltag kaum zu vermitteln oder dringen wie »Kolonialherren« in die
»Poren« gewachsener Lebensformen und unterwandern sie durch
Kommerzialisierung, durch Bürokratisierung und Verwissenschaftlichung.
Auf heutige Verhältnisse übertragen, heißt dies: Eine Form
ökonomischer »Kolonialisierung« steckt in der Forderung, die
Gesellschaft müsse von der Wiege bis zur Bahre als Profitcenter
organisiert werden. Dasselbe gilt für die rabiate Umstellung der
Universitäten auf »Effizienz«. Und wenn es den Biowissenschaften
gelänge, »Altsubjekte« genetisch zu manipulieren und wie Lego-Männchen
im Menschenpark Aufstellung nehmen zu lassen – dann wäre es ein Sieg
der wissenschaftlichen Logik über die Lebenswelt.
Vielleicht ist es dieser gebrochene, durch Skepsis verschattete Blick
auf die Gegenwart, der die akademische Karriere und die weltweite
Wirkung von Jürgen Habermas erklärt. Vorbehaltlos verschreibt er sich
dem Geist der Moderne, sein Werk enthält ein hell leuchtendes
Freiheitsversprechen und wirbt mit pathetischer Beredsamkeit für
Rechtsstaat und Demokratie. Gleichzeitig zehrt es unterhalb der sonor
vor sich hin schnurrenden Substantivketten von einem romantischen
Motiv, nämlich von Versöhnung und Verständigung. So bleibt das Werk
empfindlich für die Nötigungen marktförmiger Welterlösung, für eine
Rationalität ohne Glück, für das Grau in Grau leerer Freiheit und
sinnlosen Fortschritts. Sogar das eigene Projekt bezieht er in den
Zweifel ein. Könnte es sein, fragt er in seinem Aufsatz über Walter
Benjamin (1972), dass sich ein »emanzipiertes Menschengeschlecht eines
Tages in den erweiterten Spielräumen diskursiver Willensbildung«
gegenübertritt und »doch des Lichtes beraubt ist, in dem es sein Leben
als ein gutes interpretiert«?
Habermas’ rettende Formel hieß in den achtziger Jahren: »Versöhnung
der mit sich selbst zerfallenden Moderne«, weshalb Kapitalismus und
Demokratie, Wissenschaften und Kunst wie ein Mobile neu balanciert
werden sollten. Den radikalen Linken war das Projekt viel zu fromm,
sie belächelten es als sozialdemokratische Idylle, bevölkert von roten
Gartenzwergen, die gottergeben am Zuckerbrot »herrschaftsfreier
Kommunikation« knabbern. Die Konservativen aus dem Fraktur-Milieu
verfolgten den bekennenden Linksintellektuellen mit offenem Hass und
denunzierten Habermas als geistigen Ziehvater des Terrorismus –
vermutlich konnten sie ihm nicht verzeihen, dass er dem majestätischen
Staat, dem Souverän über den Ausnahmezustand, demokratietheoretisch
Zügel angelegt hatte.
Das sind, wenn nicht alles täuscht, die Schlachten von gestern. Wer
heute liest, mit welch argumentativer Wucht ein Konservativer wie
Ernst-Wolfgang Böckenförde mit dem Neoliberalismus abrechnet, mit der
Herrschaft des Marktes über die rechtmäßige Demokratie, der weiß gar
nicht mehr genau, worüber all die Jahre so leidenschaftlich und so
verletzend gestritten wurde – ganz so, als habe Habermas die Republik
noch durch den Streit, den er auslöste, zusammengeschweißt und dabei
sowohl die eigenen wie auch die Argumente seiner Gegner verändert. Er
hat im kollektiven Bewusstsein Epoche gemacht; kein anderer prägte die
geistige Physiognomie der Bundesrepublik so wie er, und ihm verdankt
sie ganz entscheidend ihre moralische Neugründung.
Gewiss, auch die offenen Flanken seines Werks sind inzwischen
überdeutlich. Schellings »ökologisches« Motiv, die Errettung der
äußeren Natur, hat Habermas schlicht fallen gelassen, es scheint
verschwunden. Dass er sich verstärkt für Religion interessiert, ist
nach den Diskussionen mit dem Theologen Johann Baptist Metz und dem
Philosophen Michael Theunissen zwar keine Überraschung; aber es zeigt
doch, dass es in der Diskursethik »existenziell« blinde Stellen gibt.
Wirklich schmerzhaft ist, dass Habermas’ Gesellschaftstheorie stark in
ihren Begründungen, aber schwach in ihren Beschreibungen ist, und
nicht zufällig fehlt es auf dem Feld der Zeitdiagnose, bei der
Durchdringung kultureller Phänomene, an allen Ecken und Enden an
Bündnisgenossen. Habermas reagiert nervös auf Denker, die er – wie
Michel Foucault – als verkappte Gegenaufklärer empfindet, weshalb er
deren Analysen eher aufwendig entschärft als produktiv nutzt.
Es stimmt, das reale »Projekt der Moderne« ist defensiv geworden,
seine selbstzerstörerischen Tendenzen und Erschöpfungen sind nicht
mehr zu übersehen. Möglich, dass die alten streitbaren und vitalen
Demokratien in naher Zukunft einer abgelaufenen Epoche angehören und
der große Kolonialherr, die weltweit tätige Ökonomie, die letzten
nicht-monetarisierten Flecken der Lebenswelt erobert. Habermas ist
darüber zum Vorwärtsverteidiger geworden. Die ermatteten Demokratien
Europas, so glaubt er, würden sich erst dann regenerieren, wenn
international, auf der Ebene der Weltgesellschaft, Druck aus dem
Kessel genommen wird und die Nationen sich endlich in einer
»Weltinnenpolitik ohne Weltstaat« über ihre Überlebensfragen, nun ja:
verständigen.
Zweifellos schiebt Habermas die Himmelsleiter der Abstraktion damit
noch einmal höher hinaus. Und doch folgt er wieder nur seinem ältesten
Motiv, der philosophischen Revolte gegen illegitime Macht und
undurchschaute Gewalt. Arthur Schopenhauer, mit dem Habermas nichts,
aber auch gar nichts zu schaffen hat, trifft den Nagel auf den Kopf.
Eine Philosophie, in der nicht zwischen den Seiten das Elend der Welt
herausschreit, ist keine.
Anzeige
---- [!!]
For Joanna, "Hab" /en francais/: [!!!!]
http://agora.qc.ca/textes/habermas.html
---- [!!]
Thank you, Farhang and Habermas!
http://avaxhome.ws/ebooks/science_books/philosophy/Truth_Justific.html
JDR [!!]
Jürgen Habermas zum 80.
Der Vorwärtsverteidiger
Der Philosoph Jürgen Habermas wird achtzig Jahre alt. Sein Werk ist
gewaltig, seine internationale Wirkung enorm. Das hat einen guten
Grund: Seine Bücher verteidigen den Geist der Moderne. Und dennoch
bleiben sie empfindlich für die Niederlagen des Fortschritts
Früher las man die Bücher von Jürgen Habermas heimlich unter der
Schulbank und durfte sich vom Lehrer nicht erwischen lassen. Heute
sind die Texte von Habermas Pflichtlektüre. Wer seine
Schlüsselbegriffe nicht kennt, darf sich nicht dabei erwischen lassen,
denn ihr Urheber ist schon zu Lebzeiten ein Klassiker und so berühmt,
wie ein Philosophieprofessor nur werden kann. Das ist kein gutes
Zeichen, weil für Klassiker gilt: Man kennt ihre Formeln. Aber ihr
philosophisches Motiv, in dem das Herz der Gedanken schlägt – das hat
man vergessen.
Bei Jürgen Habermas liegt das Grundmotiv seines Denkens offen zutage
und ist für Leser doch schwer zu finden. Mal tarnt es sich im grauen
Zwirn akademischer Sachlichkeit, mal verschwindet es unter turmhohen
Begründungen. Aber von Anfang an, schon in den ersten Arbeiten des
Studenten, ist es nicht zu übersehen. Das Motiv lautet, sehr
vereinfacht, so: Wer auf die Geschichte der Menschheit zurückblickt,
der sieht eine Litanei des Schreckens, eine empörende Geschichte von
Gewalt und immer wieder Gewalt. Und doch – es gibt einen nicht zu
leugnenden Fortschritt, es gibt, bei allen Rückschlägen, eine soziale
»Evolution« und damit die Möglichkeit, Macht und Gewalt zu
zivilisieren oder eines Tages vielleicht ganz abzuschaffen. Das Medium
der Selbstzivilisierung ist die menschliche Sprache, denn jedem
Sprechen wohnt ein Ziel inne, das »Telos der Verständigung«.
Kommunikation unterbricht den Kriegszustand der Welt.
Wer in diesem Gedanken ein mächtiges idealistisches Erbe vermutet, der
vermutet erst einmal richtig. Habermas, damals ein Student von Anfang
zwanzig, war bei seiner Schelling-Lektüre auf einen großartigen, aber
extrem spekulativen Gedanken gestoßen, der ihn noch heute, sechzig
Jahre später, fasziniert. »Gott Vater«, schrieb Schelling, habe sich
aus der Schöpfung zurückgezogen und den Menschen das Feld überlassen.
Allerdings: Die mit Freiheit begabten Geschöpfe seien verpflichtet,
den richtigen Gebrauch von ihrer Freiheit zu machen. Mithilfe ihrer
Sprache müssten sie untereinander dasselbe Anerkennungsverhältnis
herstellen, wie es Gott zu ihnen unterhalten habe, als er ihnen die
Autonomie schenkte. Wer gegen diesen Bund mit Gott verstoße, der
begehe erneut einen »Sündenfall«.
Habermas, der aus der Gedankenwelt von Heidegger und Gehlen kam,
schrieb seine Doktorarbeit über Schelling und gab seiner Deutung eine
verblüffende Wendung. Er schlug eine Brücke zu den Frühschriften von
Karl Marx, weil ihm dessen Gesellschaftskritik die Möglichkeit gab,
Schellings Rede vom Sündenfall ganz handgreiflich, ganz
materialistisch zu verstehen. Ein Sündenfall ist es, wenn
Machtverhältnisse über Sprachverhältnisse siegen – wenn die
»Freigelassenen der Schöpfung« nicht die Verständigung wählen,
sondern, wie so oft in der Geschichte, die Gewalt.
Nun sind Philosophen keine Belletristen, das heißt: Sie müssen die
Motive, von denen sie »infiziert« sind, gründlich ausnüchtern, von
spekulativen Schlacken reinigen und dem aufgeklärten Publikum in
klaren Begriffen verständlich machen. Genau das erhob Habermas zu
seinem Programm. Mit dem kalten Besteck der Wissenschaft wollte er
nachweisen, dass die Sprache nicht bloß eine Waffe im babylonischen
Bürgerkrieg der Gesellschaft ist, eine Maske der Macht. Seine
Gegenformel lautete: Wer das Gewebe der Sprache nur lange genug gegen
das Licht hält, wer ihre Gesetze nur inständig genug untersucht – der
wird erkennen, dass darin eine Normativität, ein Anspruch auf Wahrheit
eingebaut ist, den wir zwar missachten, aber nicht grundsätzlich
aushebeln können. Mit Wörtern kann man lügen und Macht ausüben; doch
eine Sprache, die vollständig auf Lug und Trug gebaut sei, die könne
es nicht geben. »Noch in den pathologisch verzerrten Kommunikationen
steckt der Stachel von Wahrheitsansprüchen.«
Man muss nicht lange rätseln, welche Sprengkraft eine über Schelling
vermittelte, mit Marx angereicherte und den Mitteln der Linguistik
ausgehärtete Kommunikationsphilosophie unter den theoriehungrigen
Intellektuellen der sechziger Jahre entfaltete. Sie lasen Habermas
genauso, wie er es gemeint hatte: als Forderung nach radikaler
Demokratie und radikaler Kritik. Beschädigt ist die Demokratie dort,
wo die »Öffentlichkeit« von Meinungsmonopolen beherrscht, von
Lobbyisten manipuliert und von Politikern gegängelt wird. Und defekt
sind Demokratien, die sich blindlings, ohne Willensbildung, dem
Selbstlauf des Fortschritts überlassen, der Wissenschaft und Technik
als Ideologie (so eine Studie aus dem Jahr 1968).
Viel war damals von »Herrschaftsfreiheit« die Rede, Habermas wollte in
seinen Schriften gar ein »objektives Interesse« an Emanzipation
erkennen. Heute hingegen springt eher ein anderer Zug dieser Bücher
ins Auge, ein kultureller Konservatismus, vorsichtiger gesagt: eine
tiefe Ambivalenz. Auf der einen Seite bewundert Habermas moderne
Gesellschaften, weil sie – historisch einmalig – demokratische
Verfahren etablieren und die diskursiven »Spielräume« kommunikativer
Vernunft erweitern. Auf der anderen Seite aber sind moderne
Gesellschaften zu fürchten, denn ihre Funktionssysteme entwickeln eine
überschießende Macht. Die kapitalistischen Zwänge des Marktes
kollidieren mit demokratischer Selbstbestimmung, während eine
wuchernde Sozialbürokratie – eine Befürchtung aus den siebziger Jahren
– den Bürgern das Heft aus der Hand nimmt und sie in Betonwüsten
»stilllegt«.
Die Fäden dieser Gedanken laufen in einem monumentalen Knoten
zusammen, in der zweibändigen Theorie des kommunikativen Handelns
(1981). Dieses Hauptwerk ist zu Recht als Abschied vom pessimistischen
Dunkeldenken der »alten« Frankfurter Schule gefeiert worden, doch auch
darin findet sich derselbe Zwiespalt. Die atemberaubende Dynamik des
Kapitalismus, auch Technik und Wissenschaften treiben die Gesellschaft
nach vorn. Aber zugleich geht von diesen komplexen »Systemen« eine
unsichtbare Bedrohung aus. Sie belagern die schonungsbedürftige
»Lebenswelt« der Bürger – ihre Nutzenkalküle infiltrieren die alten,
»bewusstlos-gewussten Traditionen« und setzen sich in der
vorpolitischen Sphäre fest, im Privaten und in der Familie. Mit einem
Wort: In der Moderne lauert ein Widerspruch. Ihre Systeme entlasten
zwar von materieller Daseinsnot; aber gleichzeitig sind sie mit dem
Alltag kaum zu vermitteln oder dringen wie »Kolonialherren« in die
»Poren« gewachsener Lebensformen und unterwandern sie durch
Kommerzialisierung, durch Bürokratisierung und Verwissenschaftlichung.
Auf heutige Verhältnisse übertragen, heißt dies: Eine Form
ökonomischer »Kolonialisierung« steckt in der Forderung, die
Gesellschaft müsse von der Wiege bis zur Bahre als Profitcenter
organisiert werden. Dasselbe gilt für die rabiate Umstellung der
Universitäten auf »Effizienz«. Und wenn es den Biowissenschaften
gelänge, »Altsubjekte« genetisch zu manipulieren und wie Lego-Männchen
im Menschenpark Aufstellung nehmen zu lassen – dann wäre es ein Sieg
der wissenschaftlichen Logik über die Lebenswelt.
Vielleicht ist es dieser gebrochene, durch Skepsis verschattete Blick
auf die Gegenwart, der die akademische Karriere und die weltweite
Wirkung von Jürgen Habermas erklärt. Vorbehaltlos verschreibt er sich
dem Geist der Moderne, sein Werk enthält ein hell leuchtendes
Freiheitsversprechen und wirbt mit pathetischer Beredsamkeit für
Rechtsstaat und Demokratie. Gleichzeitig zehrt es unterhalb der sonor
vor sich hin schnurrenden Substantivketten von einem romantischen
Motiv, nämlich von Versöhnung und Verständigung. So bleibt das Werk
empfindlich für die Nötigungen marktförmiger Welterlösung, für eine
Rationalität ohne Glück, für das Grau in Grau leerer Freiheit und
sinnlosen Fortschritts. Sogar das eigene Projekt bezieht er in den
Zweifel ein. Könnte es sein, fragt er in seinem Aufsatz über Walter
Benjamin (1972), dass sich ein »emanzipiertes Menschengeschlecht eines
Tages in den erweiterten Spielräumen diskursiver Willensbildung«
gegenübertritt und »doch des Lichtes beraubt ist, in dem es sein Leben
als ein gutes interpretiert«?
Habermas’ rettende Formel hieß in den achtziger Jahren: »Versöhnung
der mit sich selbst zerfallenden Moderne«, weshalb Kapitalismus und
Demokratie, Wissenschaften und Kunst wie ein Mobile neu balanciert
werden sollten. Den radikalen Linken war das Projekt viel zu fromm,
sie belächelten es als sozialdemokratische Idylle, bevölkert von roten
Gartenzwergen, die gottergeben am Zuckerbrot »herrschaftsfreier
Kommunikation« knabbern. Die Konservativen aus dem Fraktur-Milieu
verfolgten den bekennenden Linksintellektuellen mit offenem Hass und
denunzierten Habermas als geistigen Ziehvater des Terrorismus –
vermutlich konnten sie ihm nicht verzeihen, dass er dem majestätischen
Staat, dem Souverän über den Ausnahmezustand, demokratietheoretisch
Zügel angelegt hatte.
Das sind, wenn nicht alles täuscht, die Schlachten von gestern. Wer
heute liest, mit welch argumentativer Wucht ein Konservativer wie
Ernst-Wolfgang Böckenförde mit dem Neoliberalismus abrechnet, mit der
Herrschaft des Marktes über die rechtmäßige Demokratie, der weiß gar
nicht mehr genau, worüber all die Jahre so leidenschaftlich und so
verletzend gestritten wurde – ganz so, als habe Habermas die Republik
noch durch den Streit, den er auslöste, zusammengeschweißt und dabei
sowohl die eigenen wie auch die Argumente seiner Gegner verändert. Er
hat im kollektiven Bewusstsein Epoche gemacht; kein anderer prägte die
geistige Physiognomie der Bundesrepublik so wie er, und ihm verdankt
sie ganz entscheidend ihre moralische Neugründung.
Gewiss, auch die offenen Flanken seines Werks sind inzwischen
überdeutlich. Schellings »ökologisches« Motiv, die Errettung der
äußeren Natur, hat Habermas schlicht fallen gelassen, es scheint
verschwunden. Dass er sich verstärkt für Religion interessiert, ist
nach den Diskussionen mit dem Theologen Johann Baptist Metz und dem
Philosophen Michael Theunissen zwar keine Überraschung; aber es zeigt
doch, dass es in der Diskursethik »existenziell« blinde Stellen gibt.
Wirklich schmerzhaft ist, dass Habermas’ Gesellschaftstheorie stark in
ihren Begründungen, aber schwach in ihren Beschreibungen ist, und
nicht zufällig fehlt es auf dem Feld der Zeitdiagnose, bei der
Durchdringung kultureller Phänomene, an allen Ecken und Enden an
Bündnisgenossen. Habermas reagiert nervös auf Denker, die er – wie
Michel Foucault – als verkappte Gegenaufklärer empfindet, weshalb er
deren Analysen eher aufwendig entschärft als produktiv nutzt.
Es stimmt, das reale »Projekt der Moderne« ist defensiv geworden,
seine selbstzerstörerischen Tendenzen und Erschöpfungen sind nicht
mehr zu übersehen. Möglich, dass die alten streitbaren und vitalen
Demokratien in naher Zukunft einer abgelaufenen Epoche angehören und
der große Kolonialherr, die weltweit tätige Ökonomie, die letzten
nicht-monetarisierten Flecken der Lebenswelt erobert. Habermas ist
darüber zum Vorwärtsverteidiger geworden. Die ermatteten Demokratien
Europas, so glaubt er, würden sich erst dann regenerieren, wenn
international, auf der Ebene der Weltgesellschaft, Druck aus dem
Kessel genommen wird und die Nationen sich endlich in einer
»Weltinnenpolitik ohne Weltstaat« über ihre Überlebensfragen, nun ja:
verständigen.
Zweifellos schiebt Habermas die Himmelsleiter der Abstraktion damit
noch einmal höher hinaus. Und doch folgt er wieder nur seinem ältesten
Motiv, der philosophischen Revolte gegen illegitime Macht und
undurchschaute Gewalt. Arthur Schopenhauer, mit dem Habermas nichts,
aber auch gar nichts zu schaffen hat, trifft den Nagel auf den Kopf.
Eine Philosophie, in der nicht zwischen den Seiten das Elend der Welt
herausschreit, ist keine.
Anzeige
---- [!!]
For Joanna, "Hab" /en francais/: [!!!!]
http://agora.qc.ca/textes/habermas.html
---- [!!]
Thank you, Farhang and Habermas!
http://avaxhome.ws/ebooks/science_books/philosophy/Truth_Justific.html
JDR [!!]